Oilenköper
Anleitung zum Leben – NULLPUNKT aus Rostock veröffentlicht neues Album „Gemischtwarenladen“

„Gemischtwarenladen“ heißt das neue Album der Punkrocker NULLPUNKT aus der schönen Hansestadt Rostock. Die Scheibe erscheint heute (22.10.2021) beim Lüneburger Label Rock Zone Records auf CD und Vinyl und kann dort bezogen werden. Thematisch ist das Werk tatsächlich ein Gemischtwarenladen. Es geht in den Texten um das Auf und Ab im Leben, Party, Kinder, Heimat, Respekt und Toleranz. Musikalisch bieten die fünf Männer von der Ostsee straighten Punkrock mit ganz wenigen Ausreißern. Die Songs in der Einzelbetrachtung:
Stimmungsmäßig beginnt der Gemischtwarenladen tatsächlich am Nullpunkt. Im „Netz der Spinner“ lebt ein anonymes Wesen mit 88 Armen, das mit Hass und Verschwörungstheorien um sich wirft. Die erste Strophe wird so in konspirativem Gemurmel gesungen, bis die Marschrichtung klar wird. Die Bedrohung ist real, Keyboard-Heroes greifen mittlerweile zur Waffe …
„One Step beyond“ ist dann wie ein Sonnenstrahl, der die düstere Wolkendecke über der Küste durchbricht. Auch wenn es inhaltlich um all den Scheiß geht, der uns in unserem Leben nervt, stört, kaputt macht, nimmt der Song einen einfach mit. Und darum geht es letztendlich. Stell dich taub, hör mal weg, lass die Dinge einfach liegen. Irgendwann vergisst du sonst zu leben. Der Stress fängt heutzutage bei Netflix an.
Das Thema wird dann in „Pauken und Fanfaren“ (schönes Video übrigens bei YouTube) zur Vollendung geführt. Ein Party-Song mit Trompete, der ordentlich Stimmung macht! Es geht im Text auch um die Zeit der Isolation, die hoffentlich jetzt hinter uns liegt.
„Verlieben verloren“, vergessen … Wolle Petry? Mitnichten! Dieser Song hat mehr Tiefgang als die Schlagerwelt selbst im Marianengraben je erreichen könnte. Das Leben reißt Narben und die wollen gepflegt werden. Aufgeben ist keine Option, Wunden heilen, das Leben geht weiter.
Der Titeltrack ist „Am Nullpunkt“. Denn wie die Band selbst heißt auch der besungene Gemischtwarenladen, der aber weniger ein Geschäft ist als eine Idee. Es geht um die Musik, die für jeden Augenblick des Lebens etwas zu bieten hat. Sie kann beflügeln, aufbauen, in der Trauer begleiten oder einen „voll“ eskalieren lassen. Schönes Punk-Brett.
„Du“ ist die ultimative Liebeserklärung an das eigene Kind. Ein Thema, das zu oft viel zu kitschig angegangen wird, reißt an dieser Stelle definitiv alle „aktiven“ Eltern mit. Temporeich und mit schönem, bodenständigen Text wird hier alles richtig gemacht.
Bei „Alles auf Rot“ wird es wieder etwas ernster – und härter! Bei reichlich Mosh-Potenzial geht’s um die Widerstände, die Hürden, die einem im Leben begegnen und oft scheitern lassen. Doch was ist schlimmer als schlechte Entscheidungen zu treffen? Gar keine Entscheidungen zu treffen. Wer nur wartet, kommt nicht an.
Und jetzt kommt die Ballade … könnte man meinen. Aber noch mal Glück gehabt. „Genau so“ ist nach langsamen Einstieg dann doch ein punkiger Blick zurück in die Vergangenheit, der komplett ohne Wehmut auskommt. Die Perspektive geht ganz klar nach vorne. Freundschaften müssen erhalten und das innere Kind bewahrt werden.
Im Song „Die Alten“ geht es um Respekt, so viel ist mal klar. Doch ob alte Zeiten oder alte Menschen oder beide angesprochen werden, ist mir nicht ganz klar. Textlich nicht ganz rund, überzeugt der Song aber durchaus mit seiner Melodie und musikalischen Umsetzung.
Wer kennt nicht „Max Mustermann“? Der spießige Nachbar mit der rassistischen Grundeinstellung, von dem der Rest der Straßen behauptet, der sei doch sonst ganz in Ordnung. Ist er nicht, er ist ein Arschloch. Ordentlich Schwermetall wurde für diesen Song an die Saiten gehängt. In brachialem Soundgewand wird mit dem Stammtisch und Bild-Lesern abgerechnet. Sehr schöne Nummer!
Und dann kommt die Ballade doch noch! Die schönen Klänge einer Violine begleiten die „Gitarre am Meer“, wenn der Lieblingsort melancholisch besungen wird. Zuhören und zur Ruhe kommen, das kann man so machen.
Motörhead steht zwar nicht in den Credits, aber wohl Pate für den Abschluss der Platte. Das Loblied auf Rostock mit Namen „Alt & Grau“ zwingt mit hartem Rock’n’Roll-Einschlag auch die letzten Steher in den Pit. Und der wird heiß und laut, ganz sicher. Ich bin zwar kein gebürtiger Rostocker, hab nur eine Zeit dort gewohnt (und gefeiert), aber dieses Lied weckt in mir den Wunsch, sofort ins Auto zu steigen und zurückzukehren!
Fazit: Hier gibt es Stoff zum Nachdenken, eine Anleitung zum Leben, die auf Gefühlen und nicht auf Regeln beruht. Ein in weiten Strecken großartiges Punk-Album von der Basis, das trotz der Lokal-Reminiszenzen nicht abschreckend auf „Regions-Fremde“ wirkt. Wer deutschsprachigen Punk mit hintergründigen Texten und etwas Pathos mag, kann bedenkenlos zugreifen!
Der Oilenköper
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